Die Entgiftung der Demokratie
Die extreme Ungleichheit in Deutschland ist kein Naturgesetz. Sie ist die Folge davon, dass seit Jahrzehnten Homer Simpson das Land regiert. Um ihn zu stoppen, braucht es ein Ende der Angst.
Joanna Macy ist Mitte Juli im Alter von 96 Jahren gestorben
Stellen wir uns ein Dorf vor mit tausend Menschen, in dem eine Person ein Fünftel von allem besitzt. Wenn sich die Gemeinschaf nicht dagegen stellt, hat diese eine Person damit so viel Einfluss, dass sie die anderen 999 vor sich her treiben könnte.
Wollte der Dorfrat etwa im Interesse von mehr Gerechtigkeit höhere Steuern beschließen, würde sie damit drohen, das Dorf zu verlassen und alles mitzunehmen – Vieh, Wohlstand, Arbeitsplätze. Würden Einzelne aus dem Dorfrat entgegnen, dass es den Fortbestand des Dorfs bedroht, wenn sich so viel Reichtum bei einer Person konzentriert, würde sie antworten: „Ihr wollt wohl fleißige Menschen um die Früchte ihrer Arbeit bringen.“ Und sie würde überall im Dorf Plakate aufhängen, auf denen steht: „Vorsicht vor den faulen Leuten! Sie leisten nichts und wollen anderen ihren Reichtum stehlen.“
Würde eine Mehrheit an diesen Plakaten vorbeilaufen und still in sich hineindenken: „Die Person hat doch recht.“, würde sich nichts ändern – bis auf die Tatsache, dass diese eine Person immer reicher würde.
Es ist kein Vergehen, reich zu werden
Der Vergleich stammt aus dem Buch „Toxisch reich“ von Sebastian Klein. Darin beschreibt der Unternehmer, wie er an sich selbst beobachten konnte, welche Folgen es hat, wenn auf dem Konto die Zahlen immer größer werden. Mit Anfang 30 hat er die App Blinkist mitentwickelt, in der man die wichtigsten Aussagen von Sachbüchern zusammengefasst bekommt. Bei deren Verkauf zehn Jahre später wurde er zum Multimillionär.
Kleins Beispiel zeigt: Es ist kein Vergehen, reich zu werden. Reichtum, wie sich Sebastian Klein ihn erarbeitet hat, ist das Ergebnis von Kreativität, Problemlösungskompetenz und Risikobereitschaft. Ein Vergehen ist es, nicht anzuerkennen, wie sehr die Demokratie in Gefahr gerät, wenn nicht irgendwann die Erkenntnis reift: Eine Gemeinschaft kann auf Dauer nur bestehen, wenn gerade ihre klügsten und kreativsten Köpfe Verantwortung übernehmen – und bereit sind, etwas von dem abzugeben, was ihnen auch diese Gemeinschaft ermöglicht hat.
Vermögenssteuer bis heute nicht reformiert
In Deutschland besitzen 0,1 Prozent der Bevölkerung 20 Prozent des gesamten Vermögens. Das sind rund 68 000 Menschen. Und die obersten zehn Prozent so viel wie die übrigen 90 Prozent. Diese Entwicklung folgt keinem Naturgesetz. Sie ist das Ergebnis politischer Entscheidungen.
Noch in den 1950er- und 1960er-Jahren gab es hohe Spitzen- und Vermögenssteuersätze. Über die Jahrzehnte wurden sie von verschiedenen Regierungen laufend gesenkt. Bis im Jahr 1995 das Bundesverfassungsgericht die damalige Ausgestaltung der Vermögenssteuer für verfassungswidrig erklärte. Unterschiedliche Arten von Vermögen wurden unterschiedlich behandelt – das widersprach dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes.
Die Regierung unter Helmut Kohl reagierte darauf, indem sie die Vermögenssteuer aussetzte. Bis heute wurde sie nicht reformiert. Es ist, als würde Homer Simpson das Land regieren. Wenn der in Schwierigkeiten steckt, öffnet er die nächste Tür und kübelt den Müll dahinter. So lange, bis sich der Dreck irgendwann über ihm, seiner Familie und ganz Springfield ergießt.
Umverteilung von unten nach oben
Deutschland, so heißt es oft, sei eine Leistungsgesellschaft. Doch oft ist das Einzige, was wirklich etwas leistet, das Vermögen, das Menschen geerbt haben. Wer viel Geld hat, bekommt automatisch mehr – durch Kapitalerträge oder 1000 legale Steuerspartricks. Unternehmerverbände, Kommunikationsagenturen und Wirtschaftsinstitute arbeiten allerdings täglich daran, diese Umverteilung von unten nach oben mit Verweis auf Arbeitsplätze, Wohlstand und Freiheit zu rechtfertigen und die Deutschen davon zu überzeugen, dass die Ungerechtigkeit nicht am oberen Ende der Vermögensverteilung passiert, sondern am unteren. Dort, wo Menschen Bürgergeld empfangen und sich vermeintlich auf Kosten der Gemeinschaft bereichern.
In einem Dorf hingen die Plakate von Organisationen wie „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, dem „Verband der Familienunternehmer“ oder dem „Wirtschaftsrat der CDU“ an Zäunen und Laternenmasten. In Deutschland sind sie allgegenwärtig. In Social Media-Posts und in Zeitungsanzeigen. In Debattenrunden im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und in Kolumnen reichweitenstarker Kommentatoren (die weibliche Form kann man sich hier in der Regel sparen).
Die Folgen sind fatal. Im Moment wackelt die Demokratie so sehr, dass eine Partei davor steht, bei der nächsten Bundestagswahl die größte Fraktion zu stellen, deren Geschäftsmodell allein darin besteht, immer weitere Probleme zu schaffen statt auch nur für ein einziges eine tragfähige Lösung zu formulieren. Wen macht sie verantwortlich fürs Wackeln? Die Ausländer und die Faulen und die Bürgergeldbetrüger – meistens ja einfach die unterschiedlichen Eigenschaften in einer einzigen Person. Und viele folgen dieser Erzählung in der Hoffnung, diese Partei kleinzuhalten. Klappt ja hervorragend.
Eine Demokratie mit vergifteten Wurzeln
Dass die Arbeitsplatz-Industriestandort-Freiheits-Propaganda immer noch so gut verfängt, obwohl deren Auswirkungen mit jedem Wahlergebnis noch dramatischer werden, ist keine Überraschung. Stabilität und Sicherheit gehören zu den grundlegenden Bedürfnissen des Menschen. Niemand kann auf Dauer glücklich leben, wenn die Sorge das Bewusstsein durchzieht, morgen nicht mehr genug Geld zu haben für Miete und das Abendessen. Obwohl viele insgeheim ahnen, dass die einfachen Antworten nicht ausreichen, greifen sie danach. Weil sie Entlastung schaffen. Genauso wie zwei Bier jeden Abend für einen kurzen Moment davon ablenken, wie dunkel und schwer sich das Leben oft anfühlt. Das Gift sickert so immer tiefer in die Demokratie. Und genauso wie ein Baum, dessen Wurzeln befallen sind, keine gesunden Früchte abwirft, kann die Demokratie keine befriedigenden Lösungen liefern für die vielen Krisen, in denen sie gerade steckt.
Ende August ist das Buch „Radial Transformation“ von Lisa Jaspers, Naomi Ryland und Soraida Velazquez Reve erschienen. Es ist eine Ermunterung dazu, sich den Ungewissheiten und Ängsten zu stellen, die im eigenen Bewusstsein toben. Zu Beginn zitieren sie die Schwarze Feministin Audre Lord. In ihrem Essay „Die Werkzeuge des Meisters werden niemals das Haus des Meisters niederreißen“ plädiert Lorde für radikale Veränderungen statt bestehende Systeme mit den Werkzeugen oder Denkmustern zu reformieren, die diese Systeme überhaupt erst geschaffen haben.
Kein Wunder bekäme die eine Person in dem 1000-Seelen-Dorf Angst, würde sie so etwas lesen. Sie ist der Meister, dessen Haus in Gefahr ist. Die Entgiftung der Demokratie beginnt damit, sich von seiner Angst nicht länger lähmen zu lassen.
Transparenz-Hinweis: Sebastian Klein, Lisa Jaspers und ich sind Teil von brafe space.