Wann werden wir endlich smart?
Die Ermordung des Podcasters Charlie Kirk ist die nächste Aufforderung, innezuhalten und zu fragen: Wer möchte ich in dieser Welt sein? Und was kann ich beitragen, um die Polarisierung zu stoppen?
Wer ein Land verändern möchte, muss im Landkreis beginnen.
Wer einen Landkreis verändern möchte, muss in der Stadt beginnen.
Wer eine Stadt verändern möchte, muss in der Straße beginnen.
Wer eine Straße verändern möchte, muss im Haus beginnen.
Wer ein Haus verändern möchte, muss in der Familie beginnen.
Und wer eine Familie verändern möchte, muss in sich selbst beginnen.
Es ist ein Gedanke, aus dem für mich eine tiefe Wahrheit spricht. Veränderung bleibt solang ein abstrakter Wunsch, eine bloße Vorstellung von etwas Zukünftigem, das sich vom Gegenwärtigen unterscheiden möge, solange sie nicht in konkrete Schritte übersetzt wird. Der Gedanke besagt: Jede Veränderung im Außen beginnt damit, im Innen anzufangen – im eigenen Denken, Fühlen, Handeln.
Im Projektmanagement gibt es für gelingende Veränderungsprozesse eine eigene Formel. Damit eine Unternehmung zum gewünschten Erfolg führt, müssen Ziele spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert sein, kurz: smart. Sonst bleibt jede noch so gute Idee in den Wolken hängen, weil ihr kein Plan folgt, wie sie sich auf die Straße bringen lässt.
Im Veränderungsprozess, in dem sich unsere Gesellschaft gerade befindet, rennen wir so smart durch die Gegend wie Hühner, denen gerade der Kopf abgeschlagen worden ist.
Gier ist etwas Gutes
Am Mittwoch ist der Podcaster und Aktivist Charlie Kirk ermordet worden. Er war noch keine 20, als er 2012 die Organisation Turning Point USA gründete. Deren Ziele: Eigenverantwortung, freie Märkte und eingeschränkte Befugnisse der Regierung. Es sind die Pfeiler einer Philosophie, die in konsumorientierten Industriestaaten seit Jahrzehnten vorherrscht.
Der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman war einer ihrer prominentesten Vordenker. Von ihm stammen Gedanken wie: Gier ist etwas Gutes. Nur das freie Spiel der Kräfte sorgt für Innovation, Entwicklung und Freiheit. Ein Staatswesen, das zu viele Regeln setzt, führt in den Faschismus. Charlie King hat Friedman in die Gegenwart geholt. Er hat damit junge Studierende, die sich als konservativ begreifen, vom Gefühl befreit, sie würden zunehmend an den Rand gedrängt.
Für Donald Trump war Kirk im vergangenen Jahr einer seiner wichtigsten Wahlhelfer und gehörte irgendwann zu dessen Familie.
Ein Drama, das uns lang beschäftigen wird
Bei seinen Veranstaltungen diskutierte er mit Menschen mit anderen Meinungen. Auf dem Zelt, unter dem er am Mittwoch erschossen wurde, stand: „Prove me wrong“ – Widerlege mich. Er kritisierte dann Programme zur Chancengleichheit für Studierende aus ärmeren Familien. Er stellte die Klimaforschung in Frage. Er behauptete, dass Donald Trump die Präsidentschaftswahl 2020 gewonnen hatte. Und er verteidigte seine Professoren-Watchlist: eine Online-Datenbank, auf der Studierende vermeintlich linke Professorinnen und Professoren melden können.
Eine Person hielt es für eine smarte Idee, Kirk dadurch zu widerlegen, dass sie ihm eine Kugel in den Hals jagte. Es ist ein Drama, dessen Folgen uns auch hier lange beschäftigen werden. Und die nächste Aufforderung an jede und jeden Einzelnen von uns, innezuhalten und zu fragen: Wer möchte ich in dieser Welt sein? Wie kann ich die Kräfte in meinem Bewusstsein auf eine Weise unter Kontrolle bringen, die mich weiter stabil denken, fühlen und handeln lässt – und das, ohne mich hermetisch abzuschirmen?
Was erlebe ich bei einer Meinung, die meiner entgegensteht?
Im Moment herrscht in Amerika genauso wie bei uns in Deutschland eine Atmosphäre, in der jeden Tag ein neuer Werbeprospekt ins Haus flattert: „Sonderangebot! Denke wie ich und all deine Probleme sind gelöst.“
Es braucht große Willenskraft, diesen Flyer in die Hand zu nehmen und als das zu erkennen, was er ist: eine Verlockung, die für einen kurzen Moment Erleichterung verschafft genauso wie ein Erdnussflip kurz Genuss verspricht. So lange, bis man irgendwann einen Fettklops im Magen hat und schlecht schläft.
Für mich gibt es nur einen Weg, um den Flyers ins Altpapier werfen zu können: sich bewusst machen, welche Kräfte frei werden, wenn man ihn in der Hand hält. Was erlebe ich, wenn ich eine Meinung wahrnehme, die meiner entspricht? Und was, wenn das Gegenteil passiert? Wo in meinem Körper kommen die Erleichterung und die Freude auf? Und wo stecken der Zorn und die Verzweiflung?
Nur so lässt sich ein souveräner Umgang mit Kräften finden, die sonst unerkannt und unkontrolliert durchs Bewusstsein wehen und am Ende suggerieren, es sei eine vernünftige Lösung, den Zorn dadurch zu eliminieren, dass man ihn an der Person ableitet, die man dafür verantwortlich macht.
Wo ist mein Trinktagebuch?
Wer schonmal versucht hat, dauerhaft weniger Alkohol zu trinken, weiß, wie absurd einfach und gleichzeitig scheinbar unerreichbar das ist. Keinen Alkohol mehr zu trinken, ist in etwa so kompliziert wie ein Butterbrot zu essen. Man nimmt kein Glas mehr in die Hand, worin sich Sekt, Bier, Wodka oder Gin befinden und – fertig.
Und doch scheitern Menschen über Jahre daran. Fangen mit Trinktagebüchern an, um den Konsum zu überwachen. Legen die Regel fest, dass auf jedes Glas Alkohol etwas Nichtalkoholisches folgen muss. Versuchen, alkoholfreie Tage pro Woche und alkoholfreie Monate pro Jahr festzulegen. Und kommen nach wenigen Wochen regelmäßig zum Ergebnis: hat alles nicht funktioniert.
Sie trinken immer noch zu viel. Obwohl sie wissen, dass zu viel Konsum ihren Körper vergiftet. Obwohl sie den Kater hassen, mit dem sie morgens aufwachen. Obwohl sie im Spiegel rote Äderchen im Gesicht sehen. Und dann beginnt das Spiel von vorn. Morgen fang ich an, diesmal aber wirklich. Wo ist mein Trinktagebuch?
Der Trinker und die Person, die uns vom Saufen abhalten möchte
Als Gesellschaft stecken wir gerade in einer Art kollektiver Psychose. Wir sind ja nicht der eine Trinker, der nicht vom Alkohol lassen kann.
Wir sind die Trinkerin. Und gleichzeitig die Person, die dringend vor den Folgen der Sauferei warnt.
Wir sind der Unternehmer, der sich bedroht fühlt, die Früchte seines Fleißes genießen zu dürfen, weil er das Gefühl hat, dass Umverteilungspläne auf ihn zurollen, die ihm etwas wegnehmen sollen, initiiert von Menschen, die ihm mit ihrem Habitus und ihrer Selbstgerechtigkeit zuwider sind.
Gleichzeitig sind wir diejenige, die sich ihr Leben lang in „rasendem Stillstand“ befindet – eine Formulierung des französischen Philosophen Paul Virilio. Sie hat ihr Leben lang alles in ihrer Macht Stehende unternommen, um der Umklammerung der Armut zu entkommen, und immer noch das Gefühl, keinen Zentimeter vorangekommen zu sein.
Wir sind ein Mensch, der sich nach einer Vergangenheit sehnt, in der Ungleichheit, Erderwärmung und Ungerechtigkeit noch so weit entfernt von ihm waren, dass er ein sorgenfreies Leben führen konnte.
Und gleichzeitig die Person, die ihr Leben lang darunter gelitten hat, im Stillen und Unsichtbaren am Rand dieser Gesellschaft gelebt zu haben, betroffen von Rassismus, Ausgrenzung oder Ausbeutung, endgültig genug davon, dass sie nicht gesehen wird. Ihr ist nahezu jedes Mittel recht, auf sich aufmerksam zu machen. Und sei es auf die Gefahr hin, andere damit zu verletzen oder die Basis der Gesellschaft anzugreifen, von deren Bestand eigentlich auch ihr Wohlergehen abhängt.
Und wir sind die Großmutter, die ihre Enkelin auf dem Schoß hat und still in sich hinein weint im Bewusstsein, dass sie ihr eine Welt hinterlässt, die sich grundlegend unterscheiden wird von der im Hier und Heute.
Wie lässt sich die Polarisierung stoppen, die immer tiefer einsickert?
Es wird im Moment zunehmend beliebter, sich über jene lustig zu machen, die dafür plädieren, Gefühle zu einem Bestandteil politischer Debatten zu machen. Vor allem Männer reden und schreiben, als stünde der Vorschlag im Raum, Bundestagsreden nur noch heulend halten zu dürfen. Es ist eine Polemik, die jene verächtlich macht, die sich gerade fragen, wie sich mit Hilfe von Psychologie, Philosophie und teils Jahrtausende altem Wissen die Polarisierung stoppen lässt, die immer tiefer in unsere Gesellschaften sickert.
Ich arbeite jeden Tag daran, mich über sie nicht mehr zu ärgern. Wenn ich auf das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehe, blicke ich drei Gedanken später in meine eigene Seele. Und tue dort alles dafür, um meinen Teil dazu beizutragen, dass nicht in vier Wochen das nächste Attentat passiert.