Lasst sie brüllen!
Wo das Geschäft mit dem Zorn zur Industrie geworden ist, ist die Frage: Wo lassen sich Glück und Freiheit finden? Nicht in den Echokammern der Empörung, sondern in der Tiefe des eigenen Bewusstseins
Die Welt, an der wir mitgestalten, beginnt mit dem Geist, den wir ihr entgegenbringen.
Autonom darüber entscheiden zu können, was glücklich macht und frei atmen lässt, ist die größte Sehnsucht im Leben. In einer Zeit, in der so viele Menschen das Gefühl haben, so unglücklich und unfrei zu sein wie noch nie, haben es deshalb jene leicht, die einen anstrengungslosen Weg beschreiben: einfach mit dem Finger auf diejenigen zeigen, die dem Glück und der Freiheit vermeintlich im Weg stehen, und alles daran setzen, sie verächtlich zu machen und zum Schweigen zu bringen. Die Wutproduktion hat sich zu einer Industrie entwickelt in Medien, in Technologiekonzernen und in der Politik. Von ihr profitieren allein die, die jeden Tag neue Kohle in die Hochöfen des Zorns werfen: in Form von Aufmerksamkeit und Klicks, steigenden Umfragewerten oder Werbeeinnahmen.
So geraten weltweit Gesellschaften immer weiter ins Schlingern. Vor allem in konsumorientierten Industriegesellschaften steigen die Selbstmordraten genauso wie die Zahl jener, die in Depression oder Einsamkeit versinken. Die Ungleichheit hat Ausmaße angenommen, die so bedrohlich sind, dass auch diejenigen ihr Vermögen nicht ruhigen Gewissens genießen können, die es nicht durch Erbschaften, sondern durch viel Fleiß und Einsatzbereitschaft erworben haben. Die einseitige Ausrichtung aufs Wirtschaftswachstum, die nahezu weltweit zur wichtigsten Maßgabe politisches Handelns geworden ist, schafft nicht mehr Glück, sondern eine Art Zombismus: einen halbtoten Gemütszustand, in dem man rennt und rennt und vor dem eigenen Unglück davonlaufen möchte, und in Wirklichkeit immer tiefer ins mentale Elend rutscht.
Über allem liegt ein grauer Schleier
Eine der großen Fragen, wenn nicht die große Frage unserer Zeit ist: Was wird zuerst kommen – der Zusammenbruch der Ökosysteme, die unter der Unfähigkeit der Menschheit, persönliche Bedürfnisse zurückzustellen im Interesse kollektiver zukunftsfähiger Lebensbedingungen, so großen Schaden nehmen, dass er irgendwann nicht mehr reparabel sein wird? Die Flucht von Superreichen in ihre Refugien, zu denen nur Zutritt hat, wer sich ihn leisten kann? Oder der Dritte Weltkrieg, der all die Konflikte, die bereits toben, unter einem großen Label zusammenfassen und um Kriege mit dem Potential der Menschheitsvernichtung erweitern wird? Vermutlich alles auf einmal, schleichend und erst dann wirklich wahrnehmbar, wenn es zu spät ist. Sofern es nicht gelingt, genau jetzt einen Paradigmenwechsel zu vollziehen.
Wie bei einem schweren Gewitter, das sich dadurch ankündigt, dass vor der Kulisse einer schwarzen Wolkenwand ein sanfter Wind weht, ist eine Unruhe zu spüren, die die Wahrnehmung von der Welt eintrübt. Über allem liegt ein grauer Schleier, der nur tief in der Nacht verschwindet, kurz vor dem Einschlafen, wenn Radio und Fernsehen ausgeschaltet sind, die sonst im Stundentakt die nächsten schlechten Nachrichten verbreiten, und das Smartphone im Flugmodus Ruhe gibt, das sonst ständig um Aufmerksamkeit schreit – 23 ungelesene Nachrichten über alle Messengerapps hinweg hier und Benachrichtigungen von Instagram, Youtube und Linkedin dort mit Empfehlungen, die man sich unbedingt noch ansehen muss, um die eigene Weltsicht abzusichern.
Gleich am nächsten Morgen kehrt der Schleier zurück. Regierungskrise, Sturzflut, Tote in Gaza, Zölle, Trump. Und überall Stimmen, die sagen: „Hör mir zu. Dann weißt du, was hier gerade schief läuft. Ich weiß, wer schuld ist.“ Mit einiger Verlässlichkeit lässt sich sagen: Wo Menschen am lautesten und aggressivsten sind, sind die Unaufrichtigkeit und ein Mangel an Respekt und Anstand am größten. Auf allen Seiten des politischen Spektrums.
Kein selbstbestimmtes, sondern ein sich selbst bestätigendes Leben
Das Internet war einmal ein großes Versprechen davon, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, indem die Menschen informierter, aufgeklärter und selbstbestimmter leben können. Stattdessen lässt es eskalieren, wovor der amerikanische Journalist und Publizist Walter Lippmann schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewarnt hat: In einer Atmosphäre, in der alle glauben können, was sich für sie am besten anfühlt, bricht die Zivilisation zusammen.
Hundert Jahre, nachdem Lippmann seine Bücher „Public opinion“ im Jahr 1922 und „The Good Society“ 1937 veröffentlicht hatte, steht die Welt genau an dem Punkt, den Lippmann prognostiziert hat. Für jede Perspektive, für jede Weltwahrnehmung gibt es irgendwo da draußen jemanden, die oder der sie bestätigt. Niemand muss sich mehr die Mühe machen, sich Wahrheiten auszusetzen, die den eigenen entgegen stehen. Es ist eine bittere Ironie: Eine der größten technologischen Revolutionen der Menschheit könnte zu ihrem Untergang beitragen.
Für alle, die den gegenwärtigen Verführungen erliegen, ist das Ergebnis kein selbstbestimmtes Leben. Sondern eines, das sich nur noch selbst bestätigt. Ausgeweidet von jenen, die sich diese Mechanismen zunutze machen und ihre Anhängerinnen und Anhänger in mentalen Kerkern festsetzen. Das Glück, nach dem sich alle so schmerzlich sehnen, findet sich an einem Ort sehr sicher nicht: am Boden dieser Zellen. Aber wo dann?
Wer will ich sein?
Ich bin überzeugt: in der Tiefe unseres eigenen Bewusstseins. Dort, wo nicht Algorithmen darüber bestimmen, wie wir die Welt wahrnehmen. Sondern die Kräfte, die die eigene Persönlichkeit ausmachen. Die Schmerzen und die Ängste, die sich im Laufe eines Lebens angesammelt haben. Die Glaubenssätze, die sich im Denken und Fühlen eingenistet haben und wesentlich darüber entscheiden, wie man auf die Reize reagiert, denen man jeden Tag auf vielfältigste Weise ausgesetzt ist. Und die Werte, nach denen bewusste und unbewusste Festlegungen ausgerichtet sind auf Fragen wie: Was bedeuten mir Gerechtigkeit, Respekt und Aufrichtigkeit? Kann ich in einer Welt frei leben, in der ich um mich herum so viel Unfreiheit erlebe? Was bin ich bereit zu geben für die Welt, in der ich selbst leben und lieben möchte? Wer will ich sein?
Anfang Juni fand im Vatikan der Shape The World Summit statt. Es kamen Menschen zusammen, die gemeinsam darüber nachdachten, welche Perspektiven und Gedanken es genau jetzt braucht, um mit Hoffnung und Optimismus in die Zukunft zu blicken. Die Keynote hielt der libanesische Neurowissenschaftler Tony Nader. Auch sein Vortrag ist auf Youtube zu sehen. Er steht bei noch nicht einmal 300 Aufrufen. In der Welt der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie heißt das: Er hat nie stattgefunden.
Glück heißt, sich als Teil einer gelingenden Gemeinschaft zu begreifen
Tatsächlich sind Naders Antworten so bedeutsam, dass man sich wünschte, der Vortrag stünde bei 300 Millionen Klicks. Wer an einer Zivilisation mitwirken will, die in Gemeinschaft, Mitgefühl und Kreativität wurzelt, muss damit beginnen, das volle Potenzial des eigenen Bewusstseins zu entfalten. Die Welt, an der wir mitgestalten, beginnt mit dem Geist, den wir ihr entgegenbringen. Und: Es braucht keine Millionen, um diesen Paradigmenwechsel einzuleiten – eine kleine Gruppe an Menschen reicht, um eine Gesellschaft insgesamt positiv zu beeinflussen.
Lasst die Selbstvermarkterinnen und Schreihälse doch brüllen. Sollen sie weiter glauben, dass sie genau wüssten, wie sich die Freiheit verteidigen ließe. Aufrichtigkeit, Respekt, Liebe finden sich dort, wo Menschen jeden Morgen aufstehen und sich leise, aber dafür umso unbeirrter sagen: Glück und Freiheit heißt, mich als Teil einer gelingenden Gemeinschaft zu begreifen und dafür zu werben, sich ihr anzuschließen. Mal mit einem Lächeln, mal mit einem Leiden. Aber nie mit Zorn.